Die Fahrt von Essen nach Pula dauert etwa zwölf Stunden. Nach zehn Stunden, kurz vor Udine, lasse ich die Berge hinter mir, die Friauler Weinberge gehen in die Karsthügel über Triest über. Hier fängt die Heimat an. Die Luft riecht nach Meer, der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen aus der Bar am Ende der Autobahn, die ich wie jedes Mal besuche, lässt sich schon erahnen.

Nach dem Grenzübergang bei Triest verlasse ich die Autobahn. Nach ein paar scharfen Kurven empfangen mich Weinberge und Steinterrassen der istrischen Küste, der einmalige Kontrast zwischen der roten Erde und dem Grün der Vegetation. An meiner Rechten zieht Capodistria vorbei, die Stadt in der Carpaccio gelebt und gemalt hat.

Zwischen Felsen und weichen Stränden fahre ich die schattige Allee entlang. Dabei kurbele ich die Seitenscheibe herunter und lasse mir den Fahrtwind ins Gesicht blasen. Die Musik von Bruce und der Duft von Myrte und Rosmarin erfüllen die Luft. Die winklige, von Obst und Weingärten umgebene Straße führt durch kleine Fischerdörfer an der Küste voller Licht und Schatten vorbei.

Rechts ab führt die Straße durch Zypressen und Olivenhaine zum Meer und ich entscheide, hier eine Pause zu machen. Durch ein von Efeu und Gebüsch überwuchertes enges Steintor fahre ich in das von Mauern umgebene Dorf. Eine schmale Gasse führt hinunter zum kleinen Hafen. An der Wäscheleine trocknet frisch gewaschene Wäsche im leichten Wind, ich spüre nach Waschmittel riechende Tropfen auf meinem Gesicht.

Es ist Mittag. Auf den vier Holztischen unter der Pergola vor der Osteria wird Briskula gespielt. Ich nehme Platz auf der Bank aus Stein neben dem Eingang. Der Wirt schenkt mir ein Glas Malvasia ein und lässt die Flasche und einen Teller mit eingelegten Sardinen auf dem Stein neben mir stehen. Dankbar nehme ich einen großen Schluck und atme tief ein und aus. Es riecht nach Fisch und nach trocknenden Fischernetzen.

Das Sonnenlicht spiegelt sich auf der trägen Meeresoberfläche, die in kleinen Wellen gegen die Planken der Fischerbote schlägt. An der Mole neben dem Leuchtturm flickt ein Fischer geduldig und konzentriert seine Netze. Dem Rauschen des Windes lauschend lasse ich die Gedanken zur Ruhe kommen wie die Steine, die im Meeressand versinken.

Die Flasche ist leer. Neben dem Teller mit Sardinengräten liegt eine ramponierte graue Katze und leckt sich die Pfoten. Die Terrasse vor der Osteria wirkt verlassen, nur an einem der Tische wird noch Briskula gespielt. Eine Taube kommt im Tiefflug auf die Pergola geflogen, macht es sich im Schatten der Blätter gemütlich, schaut die Katze an und zuckt mit dem Hals. Die Uhr auf dem Kirchturm zeigt kurz nach drei.

Die restliche Fahrt nach Pula vergeht wie im Flug. Mit voller Kraft drücke ich aufs Gaspedal, um dem Blues des Nachmittags zu entfliehen. Vorbei an malerischer Landschaft mit bewaldeten Hügeln und tief eingeschnittenen Tälern, an zerstreuten Hirtenhütten, die wie winzige Steinzelte den Weg säumen. Und dann im krassen Gegensatz die kargen, heruntergekommenen Fassaden der Häuser meiner Geburtsstadt. Die riesigen Kräne der Schiffswerft werfen lange Schatten auf die Altstadt mit winkligen, kleinen Gassen und ihrer venezianisch-österreichischen Architektur. Fischerschiffe liegen auf der Riva neben den modernen Motorboten. Von der Terrasse des Jachthafens blickt man auf das von Kaiser Vespasian erbaute Amphitheater.

Für Dante war Pula bedeutend genug, als Grenzstadt Italiens in der göttlichen Komödie erwähnt zu werden, Michelangelo fertigte unzählige Skizzen der Tempel und Triumphbögen der Stadt, James Joyce reiste hierher. Eine verschlafene Stadt mit vielen verborgenen Winkeln, melancholisch und träge.

Und doch sind Visionäre und Abenteurer die Erschaffer dieser Stadt, die wie Rom auf sieben Hügeln errichtet worden ist. Der Legende nach wurde sie von den Kolchiden gegründet, nachdem sie die Verfolgung von Jason und den Argonauten, welche das goldene Vlies gestohlen hatten, aufgegeben haben, weil der Sohn ihres Königs ums Leben kam. Aus Angst, dass sie der König wegen des Todes des Prinzen bestrafen wird, beschlossen sie, sich an dem Ort seines Todes, an der Spitze Istriens, niederzulassen. Demnach wurde Pula, im antiken Rom als Colonia Pietas Iulia Pola bekannt, vor etwa dreitausend Jahren gegründet.

In der Zeit der Antike hatte Pula etwa 10.000 Einwohner und alle Errungenschaften der römischen Zivilisation, wie Aquädukt, Kanalisation, das Forum als Verwaltungs-, Handels- und Religionsmittelpunkt, Tempel, zwei Theater, einen großen Stadtfriedhof, den auch Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ erwähnt, Häuser mit prächtigen Mosaiken und Marmor. Außerhalb der Stadtmauern stand das weltweit sechstgrößte Amphitheater, das seinerzeit Platz für etwa 23.000 Zuschauer bot. Heute finden dort Gladiatorenspiele, das Filmfestival und Konzerte mit Weltstars wie Sting, Eros Ramazotti und Pavarotti statt.

Mitte des 19. Jahrhunderts besuchte Kaiser Franz Josef Pula und war von seiner Bucht begeistert. Auch er war ein Visionär, so erklärte er 1857 die Stadt zum Hauptkriegshafen der Monarchie und Kaiserin Sisi legte den Grundstein für die Schiffswerft „Uljanik“. Die alte Markthalle, die Kommandantur am Hafen, aber auch die vielen Festungen um die Stadt erinnern an diese Gründerzeit. Von 1 126 Einwohnern wuchs die Stadt in kurzer Zeit auf 40 000 Einwohner.

Architektonisch bietet Pula ein gelungenes Zusammenspiel des modernen Lebens und ihrer bewegten Vergangenheit. Das antike Rom trifft auf venezianische, österreichische, slawische und auch auf italienische Baukultur aus der Mussolini-Ära. Dem „Duce“ waren die Bewohner von Pula aber nicht wohlgesonnen. Während einer Rede vor dem Theater 1920 wurde er in einer Blitzaktion geohrfeigt, die meine Oma, Palmira Albanese, angeführt hatte. Darüber hat er nie gesprochen und Pula meines Wissens nie wieder besucht. Meine Oma wurde daraufhin verbannt.